Demolieren der Realität

Häufig ist unsere Realität zum „nicht-mehr-aushalten“. Alles ist voll gestopft mit Asphaltstraßen, Bungalows, Supermärkten – ohne Anreiz zum Verweilen und ohne einen erkennbaren Grund, nicht sofort die Beine in die Hand zu nehmen und wegzulaufen. So entsteht der Wunsch, das alles mal kaputt zu schlagen. Wir forschen untergründig – aber zielsicher, nach einer Methode, um die ausufernden Architekturen zu entfernen, wo auch immer diese Lösung gefunden werden kann. Und nicht nur Baukatastrophen ufern aus, auch andere Entwicklungen sind nicht zu stoppen – Vorgänge, die nicht gut sind, die hundertprozentig in eine Sackgasse für unseren ganzen Planeten führen werden und gegen die jeder Widerstand anscheinend nutzlos ist. Unser Wesenskern sagt uns dennoch: Bitte weg damit, egal auf welche Weise und zwar möglichst schnell.

Was heißt es eigentlich, zu demolieren? Demolieren bedeutet, dass wir um uns schlagen. Wir lassen, erst einmal in Rage gebracht, nichts an seinem Platz und dreschen mit unseren Händen, Füßen oder was wir haben in die Dinge hinein, z.B. um die Sachen zu verbeulen. Was wir demolieren, hat uns zuvor gestört, oder auch nicht, denn wenn wir mit dem Hauen anfangen, so treffen wir auch Sachen, die wir eigentlich nicht  vollkommen ablehnen.

Wir können körperlich demolieren, gegen Steine treten, Geschirr zerschlagen, Kisten umschmeißen und so was. Aber wir unterlassen das, weil die Sachen in der Regel jemandem gehören. Da wir nicht ohne weiteres die Dinge zerschlagen dürfen, die uns ärgern, interessieren wir uns für alternative Formen, unsere Zerstörungswut auszuleben. Gäbe es eine gewaltlose Möglichkeit, zu demolieren – manch einer würde sie gerne kennen lernen!

Kurz gesagt: Diese Methode existiert tatsächlich. Sie ist uns von Boris Vian in der Erzählung „die Ameisen“ präsentiert worden.

Boris Vian

Boris Vian ist ein französischer Romancier aus dem 20. Jahrhundert. Vian war tätig und kreativ in Paris – St. Germain. Er war ein guter Bekannter von Jean Sol-Patre (den Namen seines Förderers hat er aus Gründen des Protestes leicht verändert ) und trat als Jazz-Trompetist und Sänger auf. Vian gründete mit ein paar Kollegen die „pataphysikalische Gesellschaft“. Ihr könnt zu dem Thema recherchieren, falls Euch danach ist, es könnte interessant sein.

Wir kommen hier mit der Methode des „Demolierens der Realität“ in Berührung. Dazu lesen und besprechen wir die ersten Zeilen einer Geschichte namens: „Die Ameisen“. Der Autor kennt keine Geschichte mit vergleichbaren Eigenschaften. Aus urheberrechtlichen Gründen können wir den Text, um den es hier geht, nicht verlinken. Wer möchte, kann sich den Text im Buchhandel oder Onlineversand bestellen. Es gibt wahrscheinlich Dinge, die schwieriger zu besorgen sind.

Das Demolieren führt zu Effekten, die man nicht erwartet: Dem Demolieren des Ichs und der Konzentration auf einen Punkt. Damit schaffen wir  Voraussetzungen für das Kapitel von der Illumination, das dann folgt.

Aus welchem Grund beschäftigen wir uns mit diesem Thema? Das ‚Demolieren der Realität‘ gehörte zu einer Kette von Ereignissen, die damals abliefen – wir brauchen uns keine imaginären Orte und Situationen ausdenken, sondern können einfach realitätsnah berichten aus dem Jahr 1989.

Die Ameisen

Der Text „Ameisen“ ist eine Kurzgeschichte von etwa 10 Seiten Umfang. Die Geschichte beschreibt eine der schlimmsten Realitäten, die sich im 20. Jahrhundert ereignet haben, nämlich den Tag der Landung der Alliierten an der Normandie- Küste im Jahre 1944, am Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Text handelt von Erschlagenen, Ertrunkenen, von Maschinengewehren und Minen, von Verwundung und Unglück. Wir meinen, dass ein Schriftsteller dieses Grauen nur mit den drastischsten Mitteln darstellen kann.

Aber Boris Vian macht es anders. Der junge Soldat bibbert nicht vor Angst in seiner Situation. Er reflektiert nicht darüber, was passiert, wenn das geballte Grauen weiter über ihm zusammenstürzt. Eine seltsame Beruhigung tritt ein. Die Romanfigur nimmt das Unglück nicht mehr wahr. Sie kann bei der Landung an der Küste anscheinend über jedes Ereignis mit einem scherzhaften Abwinken hinweggehen. Vian’s Held fühlt sich nahezu wohl in dem Kugelhagel. Die Realitätsdemolierung ermöglicht der Figur eine angenehme Gemütsverfassung in einem höllischen Kriegsszenario.

Hier die ersten Zeilen der – trotz der Szenerie – eigentlich humorvollen Geschichte:

„Heute morgen sind wir angekommen, und man empfing uns nicht gut, denn es war niemand am Strand außer einem Haufen Toter und Stücke von Toten, Tanks und demolierten Lastwagen. Aus allen Ecken Kugeln, und ich mag das nicht, diese Unordnung zum Spaß. Wir sind ins Wasser gehüpft, aber es war tiefer, als es aussah, und ich bin auf einer Konservenbüchse ausgerutscht. Dem Vogel, der genau hinter mir war, hat die Kugel dreiviertel seines Gesichts weggerissen, und ich habe mir die Konservenbüchse zur Erinnerung behalten.“

Versuchen wir nun, einige sprachliche Besonderheiten zu finden:

Anfangs müsste es doch heißen: „wir starteten den Angriff“, statt „wir sind angekommen“. Die Brutalität des Vorgangs wird gedimmt.

Bei dem Ausdruck „man empfing uns nicht gut“ verwundert das „gut“ am ende. Es geht doch wirklich um das Gegenteil von „gut“, um Krieg. Ein Erzählmittel ist das Umkehren von Feststellungen.

Vian verändert die beschriebene Realität, indem er den Strand mit einer Sprache umreißt, mit der wir üblicherweise ein Urlaubsstrand beschreiben. Im Urlaub wollen wir uns amüsieren: „ich mag das nicht, diese Unordnung zum Spaß“, die Soldaten stürmen nicht das Terrain, sondern „hüpfen“ ins Wasser. Hier wird mit viel zu milder Sprache von einem Kriegsszenario berichtet.

Es geht tendenziell darum, sich über das Grauen lustig zu machen. Der Soldat, der gleich sterben muss, wird als „Vogel“ eingeführt. Ein komischer Vogel, der sich den Scherz erlaubt, sich dreiviertel seines Gesichtes wegschießen zu lassen.

„Ich mag das nicht, diese Unordnung zum Spaß“, Es ist Tätigkeit, an dem alle Soldaten teilnehmen, nämlich der Zwang, die anderen zu erschießen. Die reale Seite des „Spaßes“ ist, dass die Gegner getroffen werden. Eine an sich fürchterliche Handlung wird genommen und in ihrem Sinne umgekehrt.

Die Romanfigur hat eine Neigung, sich selbst zu zerstören: „bin auf einer Konservenbüchse ausgerutscht“.

Normalerweise müsste wir beim Anblick eines Soldaten, der zufälligerweise statt uns verletzt wird, erschrecken. Das Grauen schrumpft aber, und wird nur soweit erwähnt, als die Hauptfigur eine Konservenbüchse als Andenken behält. Negative Erfahrungen (Zerstören des Gesichtes) werden in positive (Konservenbüchse als Andenken) umgewandelt.

Schauen wir uns noch die nächsten Zeilen an:

„Die Stücke von seinem Gesicht habe ich in meinen Helm getan, ihm gegeben, und er ist weggegangen, um sich behandeln zu lassen, aber offenbar den falschen Weg, denn er ist ins Wasser gegangen, bis er nicht mehr stehen konnte, und ich glaube nicht, dass er unter Wasser genug sieht, um sich nicht zu verlaufen.“

Einem, der kein Gesicht mehr hat, können wir es auch nicht zurückgeben, er kann auch nicht damit weggehen. Wobei in diesem Krieg alle eher rannten oder krochen. Ein „falscher Weg“ ist die Richtung zum Meer, denn alle sollen landeinwärts laufen.

Begeht der „Vogel“, nachdem er bereits seine tödliche Verletzung verpasst bekommen hat, auch noch Selbstmord? Wie kommentiert Vian diese Selbstzerstörung: „Ich glaube nicht, dass er unter Wasser genug sah, um sich nicht zu verlaufen“. Der Tod wird erfasst von Vian’s Methode, sich auf absurde Weise über die Tatsachen lustig zu machen.

Wenn wir sterben, enden unsere Bewegungen. Auch hier wird das Mittel des Gegenteils benutzt: Statt auf der Stelle in sich zusammen zu fallen, soll der „Vogel“ sich noch verlaufen. usw.usw.

In dieser Dichte produziert Vian die ganze Geschichte. Das Meiste spielt sich in bedrohlichen Situationen ab. Die Realität wird aus einem, wie soll man sagen, freundlichen, lustigen, bejahenden Standpunkt aus demoliert.

Da wir jetzt nicht weiter auf den Text eingehen, empfiehlt der Autor natürlich die Originallektüre. Wie gesagt, so schwer ist der Originaltext nicht zu besorgen und 10 Seiten sind eigentlich keine einschüchternde Überlänge.

Kann so ein Text gefährlich sein?

Nun fragt der Verfasser den Leser, ob er etwas vom Demolieren der Realität, vom Wohlfühlen in der Gefahr gehört hat? Der Autor hatte keine Ahnung von diesen Dingen, oder dass diese Gegensätze gleichzeitig auftreten können. Somit konnte er auch nicht wissen, dass diese Methode gefährlich werden kann. Da er bis dato keine Gemütsprobleme hatte, dachte er, er könne diesen Kuriositäten gefahrlos nachgehen.

Der Autor las diese Kurzgeschichte etwa ein halbes Jahr das erste Mal, bevor die Schwierigkeiten bei ihm einschlugen.


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